Quelle und Copyright Wikipedia - Die freie Enzyklopädie
Walter Kempowski (* 29. April 1929 in Rostock; † 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme) war ein deutscher Schriftsteller. Er wurde vor allem durch seine stark autobiografisch geprägten Romane der Deutschen Chronik bekannt sowie durch sein Projekt Das Echolot, in dem er Tagebücher, Briefe und andere Alltagszeugnisse zu Zeitgemälden collagierte
Walter Kempowski wurde als Sohn des Reeders und Schiffsmaklers Karl Georg Kempowski (1898–1945), Teilhaber der Reederei Otto Wiggers, und der Hamburger Kaufmannstochter Margarethe Kempowski (1896–1969), geb. Collasius, in Rostock geboren. Er besuchte ab 1935 die St.-Georg-Schule, eine Knabenschule, und wechselte 1939 auf das Realgymnasium. Erste literarische Versuche entstanden unter dem Einfluss von Walter Görlitz, der im Haushalt der Kempowkis zur Untermiete wohnte.[1]
1944 wurde Kempowski, der als langhaariger „Swingheini“ den Unmut seiner Vorgesetzten erregt hatte, in eine Strafeinheit der Hitlerjugend versetzt und noch 1945 als Fünfzehnjähriger als Luftwaffenkurier (Luftwaffenhelfer) dienstverpflichtet. Sein Vater fiel am 26. April 1945. Im Folgejahr musste Walter Kempowski die Schule verlassen. Nach verschiedenen Tätigkeiten als Laufbursche trat er bei einer Rostocker Druckerei eine Kaufmannslehre an. Da deren Fortsetzung beim Rowohlt Verlag in Hamburg, wo Kempowski ab 1947 lebte, aufgrund einer fehlenden Arbeitserlaubnis nicht möglich war, nahm er eine Anstellung als Verkäufer in einem PX-Store der United States Army in Wiesbaden in der amerikanischen Besatzungszone an und arbeitete dem US-Nachrichtendienst Counter Intelligence Corps zu, was erst 2009 öffentlich bekannt wurde.[2]
Am 8. März 1948, während eines Besuchs bei seiner Mutter in Rostock, wurde Walter Kempowski, der sich auch für die liberale LDP engagierte, vom sowjetischen NWD (vormals NKWD) verhaftet. Sein Bruder Robert Kempowski (1923–2011), der die väterliche Reederei weiter betrieb, hatte Frachtpapiere aus dem Kontor gesammelt, um beweisen zu können, dass die sowjetische Besatzungsmacht größere Mengen an Demontagegütern aus Deutschland abtransportieren ließ, als mit den Westalliierten vereinbart war. Walter Kempowski sollte diese Dokumente den Amerikanern übergeben. Aufgrund dessen verurteilte ein sowjetisches Militärtribunal beide Brüder wegen Spionage zu 25 Jahren Arbeitslager. Ihre Mutter wurde zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt wegen „Nichtanzeige von Agenten ausländischer Geheimdienste“. Walter Kempowski musste seine Haft in der sowjetischen Strafhaftanstalt im früheren Zuchthaus Bautzen absitzen, in der auch das Speziallager Nr. 4 untergebracht war. Dort wurde er auch 1953 in mehrwöchige Einzelhaft wegen des Vorwurfs der Gründung einer christlichen Untergrundbewegung eingesperrt. 1954 wurde Kempowski Leiter des Gefängnischores. Die Erlebnisse in Bautzen verarbeitete er literarisch in seinem 1969 erschienenen Erstlingswerk Im Block. Ein Haftbericht.
Am 7. März 1956 wurde Kempowski nach acht Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen. Er ging zunächst nach Hamburg zu seiner Mutter, die bereits 1954 entlassen worden war. Dort begann er mit regelmäßigen Tagebuchaufzeichnungen. 1957 legte er in Göttingen das Abitur ab und nahm dort auch das Studium der Pädagogik auf. Noch in Göttingen heiratete er die ostfriesische Pfarrerstochter Hildegard Janssen, die ebenfalls Lehrerin wurde. Diesen Zeitabschnitt nannte Kempowski „ein sonniges Kapitel meines Lebens“. Ab 1960 war er als Grundschullehrer in einigen Orten sowie Kleinstädten im Landkreis Rotenburg (Wümme) tätig; zuerst Breddorf bei Zeven, ab 1965 in Nartum und von 1975 bis 1979 in Zeven. In diesen Jahren erprobte Kempowski erfolgreich selbst entwickelte Methoden des Lesen- und Schreibenlehrens an seinen Erstklässlern; ohne Lehrplan und Schulbücher zu benutzen, machte er tägliche Erlebnisberichte der Schüler zu Unterrichtsinhalten. Methodenvielfalt und individuelle Förderung selbst in großen Klassen zeichnen seine Methode aus. 1961 wurde sein Sohn Karl-Friedrich und 1962 seine Tochter Renate geboren.
Anfang 1962 schickte Kempowski ein erstes Romanmanuskript mit dem Arbeitstitel Margot an seinen einstigen Gefängnispfarrer Hans-Joachim Mund, der es wiederum an Fritz J. Raddatz weiterleitete. Der seinerzeitige Cheflektor und stellvertretende Verlagsleiter bei Rowohlt holte sich Gutachten ein, die zwar meist seiner eigenen ersten Einschätzung entsprachen und ermutigend waren, jedoch noch von einer Veröffentlichung abrieten. Ablehnende Stellungnahmen kamen aus der Gruppe 47, gegen deren „saure Schwarzweißliteratur“ Kempowski jedoch selbst eine Abneigung hegte. Anfang März 1969 wurde der Roman schließlich nach vier Neu- bzw. Umbearbeitungen unter dem Titel Im Block veröffentlicht und erhielt überwiegend positive Kritiken. Sein Anfang als Schriftsteller war damit gemacht, auch wenn dieser Roman beim Publikum vorerst nur mäßig reüssierte.[3] Laut seinen eigenen Aussagen in einem ARD-Fernsehinterview wurden von dem Buch keine 1000 Exemplare verkauft, was Kempowski sehr schmerzte.[4]Die genauen Umstände der Entstehung seines Erstlingswerkes schilderte er knapp vier Jahrzehnte später in einem ausführlichen Bericht in der von Renatus Deckert herausgegebenen Anthologie Das erste Buch.[5].
Anfang der 1980er Jahre begann Kempowski, biografische Materialien von einfachen Menschen zu sammeln, indem er Anzeigen in der Wochenzeitung Die Zeit aufgab. Er erhielt Unmengen an Tagebüchern, Briefwechseln, Lebensaufzeichnungen und Fotografien von Menschen aus unterschiedlichen Kreisen und Zeiten. Diese Materialien verwendete er in seinem Hauptwerk Das Echolot. Das „Archiv für unpublizierte Autobiographien“ befand sich an Kempowskis Wohnort im Haus Kreienhoop in Nartum. 2005 vermachte er sein Biografien-Archiv, das mittlerweile hunderttausende Fotos und Millionen Blatt Papier umfasst, der Akademie der Künste in Berlin, wo es seither fachlich betreut wird.[6]
In den 1960er Jahren intensivierte Kempowski seine schriftstellerische Tätigkeit. Einem breiten Publikum wurde er 1975 und 1979 durch die Verfilmungen mehrerer seiner autobiografischen Romane bekannt: Tadellöser & Wolff (1975) und Ein Kapitel für sich (1979). 1978 war er vom Hanser-Verlag zum Knaus Verlag gewechselt, dem er dann bis zu seinem Tod treu blieb. Von 1980 bis 1991 war er Lehrbeauftragter für Fragen der Literaturproduktion an der Universität Oldenburg. Im Laufe der Jahre nahm er unterschiedliche Dozententätigkeiten an Universitäten in Deutschland und den USA wahr.
Eine Besonderheit in Kempowskis Stil ist die Kunst der Collage. Durch eine scheinbar emotionslose Aneinanderreihung eigener Erlebnisse, von Liedtexten, Zitaten, Reklameschriften usw. in einen jeweils meist absatzweise strukturierten Kontext entsteht eine für den Leser authentisch wirkende Szene. Die hintereinander gereihten Absätze mit jeweils wechselndem Thema ergeben eine Art literarische Collage, die trotz ihrer scheinbaren Teilnahmslosigkeit spannend wirkt und dem Leser viel Raum für die eigene Interpretation lässt. In seiner Familienchronik hat er diese Collage-Technik zu hoher Perfektion ausgebaut. In seinem Werk Echolot sind es keine eigenen Erlebnisse, aber diejenigen von zahlreichen Zeitzeugen, die zu Collagen zusammengestellt werden. Nicht alle seine Romane oder Erzählungen sind auf diese Weise angelegt.
Trotzdem wurde Kempowski im Januar 1990 von dem Journalisten Harald Wieser im Magazin Stern öffentlich des Plagiats bezichtigt, weil er für seinen Roman „Aus großer Zeit“ ganze Passagen von dem Autor Werner Tschirch (Rostocker Leben. Im Rückblick auf 1900) übernommen hatte. Unterstützt wurde Kempowski jedoch durch Kollegen wie Hellmuth Karasek, der in einem Spiegel-Artikel (Der Ehrabschreiber, 3/1990[7]) darauf hinwies, dass Kempowski in Interviews und in Vorlesungen über seine Methode stets bereitwillig Auskunft gegeben und dabei auch immer das Buch Tschirchs als eine seiner Quellen genannt habe.
1993 verschaffte ihm Frank Schirrmacher durch einen Essay in der FAZ eine erste größere Anerkennung als seriöser Schriftsteller, wie er in seinem Tagebuch vermerkte.[8]
Seinen Werken gemeinsam ist eine manchmal lakonische, teils sarkastische, mit hintergründigem Humor versehene Erzählweise. Vorbilder und Grundlagen seines einzigartigen Erzählstils sind teils bei Franz Kafka, teils bei John Dos Passos zu finden, für die Chronik seiner Familie spielte auch John Galsworthy eine Rolle.[9] Als Initialzündung für seinen Stil bezeichnete er die Lektüre des Romans „Alles andere als ein Held“ von Rudolf Lorenzen.[10] Bei der Collagetechnik lassen sich auch Bezüge zu Arno Schmidt herstellen, den Kempowski zeitlebens sehr geschätzt hat.[11]
Bundespräsident Horst Köhler würdigte bei Eröffnung der Ausstellung, die sich Kempowskis Leben und schriftstellerischem Wirken widmete, in der Berliner Akademie der Künste am 19. Mai 2007 Kempowski als Volksdichter, weil sehr viele Menschen seine Werke läsen und weil „er wie kein anderer das Volk selbst zum Sprechen gebracht hat“.[12] Der schwerkranke Kempowski, der selbst nicht an der Zeremonie teilnehmen konnte (ihn vertrat seine Frau Hildegard), bezeichnete den Tag der Ausstellungseröffnung als den glücklichsten in seinem Leben, welches er nun, nach jahrelangem zähen, teils bitterem Kampf gegen fehlende öffentliche Anerkennung, zufrieden beschließen könne. Die Dankesworte verlas Kempowskis Sohn Karl-Friedrich: „Ich danke all denen, die mein Werk wohlwollend begleiteten, und ich verzeihe jenen, die es ignorierten.“ Im Gespräch mit dem Deutschlandradio sagte der Schriftsteller: „Ich bin 78, und es wird Zeit, sich zu verabschieden. Ich hab genug getan, ich war 30 Jahre Pädagoge, habe 40 Bücher geschrieben, das reicht allmählich.“[13]
Wesentlich und charakteristisch für Kempowskis Arbeit war die Hinwendung zu umfangreichen Großprojekten, die Fleißarbeit über viele Jahre erforderten. So vermutete er schon in seinem Tagebuch (wie wir nun wissen, irrtümlicherweise), dass die Arbeit am „Echolot“ ihn wohl bis zum Lebensende beschäftigen werde. Zuletzt arbeitete er am großen Projekt „Ortslinien“, das vorsieht, Fotos, Texte, Tondokumente, Filme und Gemälde aus dem Zeitraum 1850 bis 2000 zu einem Gesamtkunstwerk zu bündeln, bis schließlich jeder Tag durch ein Kunstprodukt repräsentiert wird. Kempowski selbst ging davon aus, dass eine Crew über seinen Tod hinaus mit dem Großwerk beschäftigt sein werde. Das Projekt „Plankton“ sollte an die Befragungsbücher der „Deutschen Chronik“ anschließen, dafür hatte er seit den sechziger Jahren Aussagen gesammelt. Seit 2003 schrieb Kempowski an einem Gedichtzyklus über seine Haftzeit.
Im Oktober 2006 wurde bei Kempowski Darmkrebs diagnostiziert. Dessen ungeachtet versuchte er, seine schriftstellerische Tätigkeit fortzusetzen. Er arbeitete an einem Tagebuch über das Jahr 1991, als der Zweite Golfkrieg stattfand. Im März 2007 las er in seinem Haus vor rund 70 Personen aus seinem Roman Alles umsonst. In seinen letzten Lebensmonaten widerfuhr ihm die letzte, lang vermisste Genugtuung einer beständigen Aufmerksamkeit durch die Massenmedien. Eine Ausstellung zu seinem Lebenswerk in der Berliner Akademie der Künste vom 20. Mai bis 15. Juli 2007 trug mit zu diesem spät erwachten Interesse bei. Noch im September 2007 schuf der Berliner Bildhauer Bertrand Freiesleben eine Porträtbüste von Kempowski. Es ist das letzte Porträt von Walter Kempowski. Am 5. Oktober 2007 verstarb der Schriftsteller im Alter von 78 Jahren in einem Krankenhaus im niedersächsischen Rotenburg.[14] Zuvor gab er noch ein letztes Interview.[15] Darin sagte er: „Der Kluge gibt so lange nach, bis er der Dumme ist.“
Der US-Wissenschaftler Alan Keele hat in einem Interview mit dem FAZ-Mitarbeiter Edo Reents[16][17] berichtet, dass er im US-Archiv der Geheimdienste in Maryland Akten des Counter Intelligence Corps (CIC) aus den Jahren von 1947 bis 1948 einsehen konnte. Daraus konnte er entnehmen, dass Walter Kempowski die Niederlassung des CIC in Wiesbaden mehrmals besuchte und dort seine Dienste anbot. Dirk Hempel gibt an, dass Kempowski den ersten Kontakt zum US-Geheimdienst bei einer Routinebefragung infolge seiner illegalen Einreise in die US-Besatzungszone gehabt habe. Die anderen Kontakte hätten sich im Zeitraum von Dezember 1947 bis Januar 1948 ereignet.[18] Als Motiv der Kontakte von Kempowski zum CIC gibt Hempel an, dass sich Kempowski „verpflichtet fühlte, den Amerikanern über die Zustände in der Sowjetischen Besatzungszone zu berichten“.
Im Gegensatz zu den Aussagen in seinen Romanen ergaben die Akten, dass nicht er, sondern sein Freund Hans Siegfried (Deckname: Fritz Lejeune) die zweiundneunzig Frachtbriefe, die Informationen über sowjetische Pläne in Rostock enthielten, dem CIC übergeben habe. Kempowski gab in einem Brief an Keele an, dass Siegfried ihn nicht an den sowjetischen Geheimdienst verraten habe. Allerdings sagte Keele aus, dass Siegfried kurzfristig im März 1948 von einer Reise nach Rostock zurücktrat, an der beide teilnehmen wollten. Kempowski ist aber dann in Rostock verhaftet worden. Ob Siegfried ein Doppelagent gewesen ist, konnte nach Aussage von Keele bisher nicht geklärt werden. In den Akten der CIC wird jedenfalls behauptet, Siegfried habe Kempowski verraten.
„Ich bin konservativ und liberal, und das darf man in Deutschland nicht sein. […] Man darf ja auch heute nicht seine Meinung sagen in Deutschland. Versuchen Sie das doch mal! Ein Schritt vom Wege, und Sie sind erledigt.“
„Das Einzige, was mich am Tod wirklich traurig macht, ist, dass man als Toter keine Musik mehr hören kann.“
„10. Juli 1989: [...] Das Problem der Pädagogik ist, daß es zuwenig intelligente Menschen mit Herz gibt.“
„Wenn die Welt noch Augen hat, zu sehen, wird sie, um es in einem Wort zu sagen, in ‚Echolot‘ eine der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts erblicken. Wenn sie im Begriff sein wird, ihr Gedächtnis und ihre Geschichte endgültig zu verlieren, wird sie sich auf dieses Werk besinnen und damit wieder Gerechtigkeit herstellen können. Denn keine Klasse der heutigen Gesellschaft, so hat ein Historiker geschrieben, unterdrücken wir so rücksichtslos wie die Toten. Morgen, so hat er hinzugefügt, sind wir die Toten, dann sind unsere Zukunftsträume nichts weiter als alte Geschichten.“
„In unseren mal abstoßend rührseligen, mal panisch verbissenen Zeiten haben wir ihn bitter nötig – als lebenden Vorwurf gewissermaßen, der uns unablässig sagt, dass wir uns doch einfach zusammenreißen und unsere Arbeit tun sollen, wie sein Vater ihm in seinen Romanen manchmal erscheint: mit Monokel und skeptischem, aber irgendwie auch gütigem Ausdruck. Was wir brauchen, ist eine Entideologisierung, eine Entpathetisierung unseres Denkens, Redens und Schreibens, und zwar in jeder Hinsicht.“
Wissenschaftler, Journalisten und Studenten haben im Juni 2007 in Gießen eine „Kempowski-Gesellschaft“ gegründet. Die literarische Gesellschaft will sich der Bewahrung und Förderung des Werks Walter Kempowskis widmen. Gründungsvorsitzender wurde der Gießener Germanist Sascha Feuchert. Den gegenwärtigen Vorsitz hat der Heidelberger Sprachwissenschaftler Jörg Riecke inne.
In der Hansestadt Rostock bietet das Kempowski-Archiv eine Dauerausstellung von Archivgegenständen an. Den Besuchern wird die Möglichkeit geboten, Manuskripte und andere Materialien von Walter Kempowski in einem Lesezimmer zu durchblättern und näher zu betrachten.
In seinem Wohnort Nartum hat die Kempowski-Stiftung Haus Kreienhoop ihren Sitz. Die 2005 gegründete Stiftung betreibt das Haus Kreienhoop, der Lebens- sowie Arbeitsort von Walter Kempowski, als Gedenkstätte und Literaturtreffpunkt.[25]
Der Asteroid (11789) Kempowski ist nach ihm benannt.