Zeitgeschehen


Artikel vom 03. September 2019 

 

Gesellschaft der Zukunft: Was können wir gegen Altersarmut tun?

Die „armen“ Alten werden immer mehr. Fast jeder fünfte lebt von weniger als 999 Euro im Monat. Grundrente, Mindestrente oder zusätzliche bedarfsgeprüfte Leistungen - was können die Konzepte?

 

Wenn Menschen sich keine Butter fürs Brot leisten können

Lydia Staltner

Geschäftsführender Vorstand, Seniorenhilfe Lichtblick e.V.

 

1. Unser Verein Seniorenhilfe Lichtblick hilft armen Rentnern

2. Sie tragen löchrige Kleidung und können sich absolut nichts leisten

3. Die Politik redet das Problem klein, doch wir kennen Tausende von Fällen

 

Auf das Thema Altersarmut wurde ich 2003 aufmerksam. Damals fiel mir in München eine alte Frau auf, die ihren Rollator immer ganz langsam an unserem Mehrfamilienhaus vorbeischob. Sie trug winters wie sommers immer den gleichen zerschlissenen Mantel und die gleichen alten Schuhe. Erst verstand ich gar nicht und fragte mich: Warum trägt die bei 30 Grad im Sommer einen Wintermantel? Damals war Altersarmut für mich ein Fremdwort. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff. Die Dame hat nichts zum Umziehen, sie trägt alles am Leib, was sie hat.

Von da an stand für mich fest: Ich tue was für alte Menschen. Einige Kollegen und Freunde haben mich zuerst ausgelacht. Einige meinten: Mach doch lieber Karriere oder heirate.

 

Aber ich bin eine echte Münchnerin, das heißt, ich lebe in einer wunderschönen Stadt und in einem wunderschönen Land. Und dafür bin ich älteren Menschen dankbar, denn sie haben dieses Land nach dem Krieg wiederaufgebaut.

„Ich helfe alten Menschen, schickt mir welche“

Also blieb ich bei meinem Plan, gründete mit sechs anderen den Verein „Seniorenhilfe Lichtblick“ und mietete mir ein kleines Ladenbüro, weil ich wollte, dass die Menschen zu mir kommen können. Dann ging ich an die Presse und rief fremde Firmen an, die ich um Spenden bat. Ich holte mir viele Abfuhren; eine Firma meinte zum Beispiel „Nein, das ist nicht unsere Zielgruppe“. Aber es gab auch Unternehmen, die etwas spendeten, Geld oder Sachleistungen wie beispielsweise Schuhe. Als Nächstes meldete ich mich bei Münchner Landratsämtern, Altenservice- und Sozialzentren und sagte denen: „Mich gibt’s, ich helfe alten Menschen, schickt mir welche.“

Einige haben zuerst gedacht, dass ich Spaß mache. Aber ich habe Zettel gedruckt und bin immer wieder in die Öffentlichkeit gegangen. Im vierten Jahr nach der Vereinsgründung haben der „Münchner Merkur“ und die Sparda-Bank München zusammen mit unserem Verein eine vorweihnachtliche Spendenaktion gestartet, es wurde ausführlich über uns berichtet – von da an kam die Sache in Fahrt. Heute sind wir an drei Standorten und haben mehr als 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wir bewirken etwas: Allein in den vergangenen dreieinhalb Jahren haben wir 15.200 Menschen helfen können, und diese Menschen begleiten und unterstützen wir lebenslang. Inzwischen schicken sogar das Rote Kreuz, die Diakonie oder die Malteser alte Menschen zu uns, weil ihnen selbst die Mittel für deren Unterstützung fehlen.

Nachdem sie einen Bedürftigkeitsantrag bei uns ausgefüllt haben, können wir den Menschen oft helfen: mal mit Einkaufsgutscheinen, mal mit gebrauchten Elektrogeräten oder anderen Dingen des Alltags. Wussten Sie zum Beispiel, dass die Krankenkassen für bedürftige Personen Brillen erst ab einer Fehlsichtigkeit von über sieben Dioptrien übernehmen? Alte Menschen müssen ja nicht lesen! Oder?

20 Jahre auf derselben alten Matratze

Unter unseren Kunden sind Männer und Frauen, die am Ende des Monats keine fünf Euro mehr übrig haben und die sich keine Butter für ihr Brot mehr leisten können. Leute, die aus ihren Wohnungen rausmussten und fast alle Möbel zurückgelassen haben, weil sie sich keinen Umzug leisten konnten. Die schlafen zum Teil seit 20 Jahren auf derselben Matratze. Es gibt Senioren, die kommen immer nur im Sommer zu uns: Ihre Schuhe sind so löchrig, dass sie sich nur in der warmen Jahreszeit zu uns trauen. Die Schicksale dahinter berühren mich noch immer, sind aber auch ein wahnsinniger Antrieb, dass niemand mehr hungern soll.

Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, dem Staat zu sagen, was er tun muss. Ich bin von unserer Regierung dennoch sehr enttäuscht. Politiker behaupten gern, es gäbe so gut wie keine Altersarmut. Doch unserer Erfahrung nach beantragt im Schnitt von drei bedürftigen Alten nur einer die staatliche Grundsicherung. Die Menschen sind oft zu stolz, überfordert, oder sie haben Angst vor einer vermeintlichen Demütigung. Doch das Leid und die Not sind da!

Wir müssen die Lebensleistung stärker anerkennen

Aktuelle Studien warnen, dass jeder fünfte Bürger von Altersarmut bedroht ist. Man muss sich nur vor Augen halten: Wer 45 Jahre lang jeden Monat 3000 Euro verdient hat, dem bleiben nach Abzug von Steuern, Krankenversicherung et cetera noch etwa 1100 Euro Rente. Davon geht wiederum mittlerweile die Hälfte für Miete ab, der Rest bleibt für Nahrung und Kleidung. Zum Zurücklegen bleibt jedenfalls für sehr, sehr viele nichts übrig: Was sollen denn bitte Menschen, die heute im Niedriglohnbereich arbeiten, wie Arzthelferinnen oder DHL-Lieferanten, fürs Alter ansparen?

Ich bin der Ansicht, dass wir die Lebensleistung der Menschen stärker anerkennen müssen. Ein erster Schritt wäre schon mal, dass Frauen genauso viel verdienen wie Männer. Und dass Männer beispielsweise ihre Frauen unterstützen, wenn die ihr Studium beenden wollen. Zudem sollten wir unser ganzes Rentensystem hinterfragen: Eine Mindestrente müsste 1400 bis 1500 Euro betragen. Die 900 Euro, die im Gespräch sind, sind doch ein Schmarren – da muss man sofort wieder aufs Amt, um Zuschüsse zu beantragen. Und wenn der Staat sich mal wieder feiert, dass er die Renten anhebt, dann wird gern verschwiegen, dass durch diese Erhöhung wiederum plötzlich die Rente von Hunderttausenden Senioren steuerpflichtig wird.

Ich kenne die Lösung nicht, aber ich weiß: Diese alten Menschen brauchen unsere Hilfe, und zwar jetzt.

Lydia Staltner
© Lydia Staltner
Lydia Staltner

Geschäftsführender Vorstand, Seniorenhilfe Lichtblick e.V.

Lydia Staltner (Jg. 1959) ist geborene Münchnerin und gelernte Werbekauffrau. 2003 gründete die Inhaberin einer kleinen Werbeagentur den Verein „Seniorenhilfe Lichtblick“, mit dem sie und ihre Mitstreiter gegen Altersarmut kämpfen. Zahlreiche Unternehmen und Prominente unterstützen das Projekt mittlerweile. Wer spenden möchte, kann dies hier tun: Stadtsparkasse München, IBAN: DE20 7015 0000 0000 3005 09, oder Sparda-Bank, IBAN: DE30 7009 0500 0004 9010 10. XING ist in keiner Weise mit dem Verein verbunden.

Judith Fahrentholz

Judith Fahrentholz 
Reinhard Piel
Allerdings muss auch hier ganz genau geguckt werden, wieviel der vermeintlich armen haben ein sechstelliges Guthaben auf der Bank und sind entweder zu geizig oder wissen nicht was Sie da haben! Alles schon erlebt, und unsere Mieterin war genauso, hatte viele neue unverpackte Klamotten im Schrank, ging aber immer mit ihrem löchrigen dreckigen Klamotten rum, weil sie es liebte! 
Viele halfen Ihr, siehe OV Kleidung, auch wir haben Ihr einen Rollator geschenkt....später kam raus das Sie über 100.000€ auf der Bank hatte. 
Warum auch sind die älteren Leute sehr beliebt bei Gauner und Co, haben doch auch so einige Bargeld unterm Bett versteckt, irgendwie ticken da alle gleich. 
Lieber Herr Piel, 
genau, Vermögen und Schulden müssen genauso zur Gesamtbetrachtung herbeigezogen werden, wie das Einkommen (die Rente). Bei LichtBlick schauen wir deshalb ganz genau hin, wer finanzielle Hilfe von uns bekommt und helfen nur da, wo die Not wirklich da ist. Ganz klar ist der Fall z. B. bei Rentnern, die bereits Grundsicherung zu ihrer Rente bekommen. Da hat dann das zuständige Amt bereits alle Vermögens- und Schuldenverhältnisse gecheckt und wir können den Menschen mit einem Zuschuss z. B. zu Winterkleidung noch zusätzlich Gutes tun - letzteres ist nämlich von den zu kleinen staatlichen Zuwendungen meistens unbezahlbar.

Guenther P. Mairoth

Guenther P. Mairoth 
Christine Marie Schneider
Allerdings muss auch hier ganz genau geguckt werden, wieviel der vermeintlich armen haben ein sechstelliges Guthaben auf der Bank und sind entweder zu geizig oder wissen nicht was Sie da haben! [...]

Ganz genau. Und die Menschen, die hier in Hamburg zum größten Teil sehr ärmlich gekleidet Flaschen sammeln, tun dies, damit sie ihr Chalet in der Schweiz abbezahlen können. *ironieoff* 
Spötteln Sie nicht. Ich sah schon Vermögende Flaschen sammeln, Geiz ist geil ... (war nicht in Hamburg). *keineironie* 


Ich spöttele nicht, sondern finde diese Einzelfallbetrachtung angesichts des täglichen Lebens einfach unangemessen. Oder glauben Sie etwa, die Menschen gehen gern zur Tafel? Sammeln gerne im Müll? 
Gutmenschen wie Sie spenden sicher 33% des eigenen Einkommens mit diesen Ärmeren, Richtig?
  • Guenther P. Mairoth
    Guenther P. Mairoth 
    Jörg Brokmann
    Was ist denn BGE???? Sprechen Sie Apparatchick? <g>

    Bedingunsloses GrundEinkommen ;-) 
    Danke. Ist so ein Apparatchick-Deutsch ... Versteht nicht jeder Normalbürger. ;-)
  • Christine Marie Schneider
    Christine Marie Schneider 
    Jörg Brokmann
    Das BGE ist mMn absolut keine Lösung, sondern wird nur noch mehr Probleme bereiten.

    Grund- oder Einheitsrente ist nicht BGE, oder? 
    Nein, zumindest nach meiner Kenntnislage nicht.
  • Jörg Brokmann
    Jörg Brokmann 
    Guenther P. Mairoth
    Was ist denn BGE???? Sprechen Sie Apparatchick? <g>

    Bedingunsloses GrundEinkommen ;-) 

    Danke. Ist so ein Apparatchick-Deutsch ... Versteht nicht jeder Normalbürger. ;-) 
    Ist 'ne einfach Abkürzung, wie AfD, fdH, mfG oder ZDF
  • Christine Marie Schneider
    Christine Marie Schneider 
    Guenther P. Mairoth
    [... ] Gutmenschen wie Sie spenden sicher 33% des eigenen Einkommens mit diesen Ärmeren, Richtig?
    Ich bin kein Gutmensch. Aber: Ich unterstütze meine Mutter finanziell, ja. Und was tun Sie?
  • Saskia Adolf
    Saskia Adolf 
    Frau Staltner, vielen Dank für Ihren Einsatz! Es graut mir selbst bei solchen Zuständen vor meiner Rente. Mein Renteneintrittsalter ist zwar noch weit entfernt, sollte sich aber nichts ändern, werde auch ich in der Altersarmut landen. Und was kann man dagegen tun? Sparen, Anlegen, private Versicherungen? Schwierig, wenn ständig die Spielregeln im laufenden Spiel geändert werden. Betriebsrente wird nun zur Kasse gebeten, auf Aktiengeschäfte sollen Steuern erhoben werden etc. 
    Wie soll denn noch ein Puffer aufgebaut werden? 
    Für mich kann nur eine Reform die Lösung sein. Alle! zahlen in einen Topf und die Obergrenze wird abgeschafft, sprich alle zahlen prozentual das gleiche ein. Darüber hinaus müssen die Beiträge Zweckgebunden sein - wie kann es sein, dass über 70 Mrd. im Rententopf fehlen?
  • Christine Marie Schneider
    Christine Marie Schneider  Bearbeitet
    Saskia Adolf
    [...] Und was kann man dagegen tun? Sparen, Anlegen, private Versicherungen? Schwierig, wenn ständig die Spielregeln im laufenden Spiel geändert werden. Betriebsrente wird nun zur Kasse gebeten, auf Aktiengeschäfte sollen Steuern erhoben werden etc. Wie soll denn noch ein Puffer aufgebaut werden? [...]
    Genau das finde ich auch problematisch. Jeder ist gewillt, im Rahmen seiner Möglichkeiten vorzusorgen. Aber wenn das im Nachgang dann seitens der Politik abgestraft wird und das Geld dann wieder abgezogen wird, fühlt man sich so verraten und verkauft.
  • Ibrahim Gezici
    Ibrahim Gezici 
    Liebe Frau Staltner ! Vielen herzlichen Dank für den rührenden Beitrag. Seit fast vierzig Jahren arbeitet ich als Sozialberater für Ausländer bei der Arbeiterwohlfahrt und Berufsbetreuer und habe viele schmerzvolle Erlebnisse im Bezug auf Altersarmut in allen Schichten und Zugehörigkeiten unserer Gesellschaft erlebt. Was mich traurig machte, dass nach einer Promifeier der hochrangigen Politiker und Befugten , nach dem "Abklingen" der Feier soviel Essen übrig blieb, wovon sich einige Leute eine Woche ernähern könnten. Obwohl es am Anfang mit Widerständen und gemischten Gefühlen begegnet wurde, konnte meine Frau eine Rentnerin bis zu ihrem Tod fast jahrzehntelang mit Essen versorgen. Politiker und Regierenden vertreten heutzutage eigene und Fremdinteressen , jedoch nicht das Volk. Um gewählt zu werden , suchen sie Feindbilder , wie Islam oder Türken oder Ausländer, Klimawandel, Kriminalitätsraten, um die Menschen zu beängstigen , als Sündenböcke. Viele Politiker stammen von Arbeiterklasse , nur kleiden sich von berühmten italienischen Modehäusern an. Wen interessiert ,ob der Rentner aus dem Müll Essen sammelt . Oder ? Liebe Frau Staltner , früher waren die Menschen in Deutschland sehr hilfsbereit, emotional, zugänglich, lieb miteinander. Heute stirbt der Nachbar in den vier Wänden, da schaut keiner nicht mal nach. In den 60-70 Jahren haben mir und uns Einheimischen in allen Bereichen des Lebens, geholfen. Dafür bin ich immer dankbar an die mir abgeholfenen deutschen Familien.
  • Christine Marie Schneider
    Christine Marie Schneider 
    Ibrahim Gezici
    [....] Liebe Frau Staltner , früher waren die Menschen in Deutschland sehr hilfsbereit, emotional, zugänglich, lieb miteinander. [...]
    Na, das klingt jetzt aber nach Utopia.