Der nachfolgende Artikel erschien in den Buch
"Der Größte Crash Aller Zeiten"
von Marc Friedrich & Matthias Weik
Zum Thema Justiz und Rechtswesen haben wir uns die kompetente Meinung von einem Insider und einem anderen Schwaben eingeholt: Erich Künzler, Präsident des Sächsischen Oberverwaltungsgerichtes, hat uns dankenswerterweise folgenden lesenswerten Gastbeitrag geschrieben.
Datum der Erstveröffentlichung des Buches: 31.Oktober 2019
Justiz in Deutschland – die Gewaltenteilungssäule wackelt
Von Erich Künzler
Wer nicht im juristischen Orbit gefangen ist, wer nicht blind und taub ist, dem kann der wachsende Vertrauensverlust in die Justiz nicht verborgen bleiben. Die Umfrageergebnisse, wonach inzwischen teilweise 50 Prozent der Befragten angeben, dass sie kein Vertrauen mehr in die Justiz haben, sind alarmierend. Denn es bedeutet nichts anderes als wachsende Zweifel am Rechtsstaat in großen Teilen der Bevölkerung. Es wundert, dass darüber eher achselzuckend hinweggegangen oder es sogar ignoriert wird.
Beschwichtigungen in der Art, dass das alles nicht so schlimm sei und bei allen Problemen die Justiz in Deutschland »an sich« im Großen und Ganzen »recht ordentlich funktioniere«, ähneln dem Pfeifen im dunklen Wald. Wenn es dunkel und bedrohlich wird, sollte man nicht so tun, als sei es hell und gemütlich. Dass manches noch einigermaßen funktioniert, ist denjenigen in der Justiz geschuldet, die ungeachtet aller Probleme versuchen, durch großes Engagement die Schieflage so gut wie möglich zu meistern. Das sind die, die die richterliche Unabhängigkeit nicht als Standesprivileg betrachten, die die Freiheiten der richterlichen Unabhängigkeit nicht als Freibrief für die Gestaltung eines komfortablen Lebens oder als nahezu unantastbaren Raum der eigenen Freiheit missbrauchen und die den Rechtsstaat nicht als abstraktes Gebilde für Sonntagsreden verstehen, sondern ihn verwirklichen möchten. Aber es wird ihnen schwer gemacht, durch die Richterinnen und Richter, die das nicht so sehen und danach handeln. Auch bei der Justiz muss an erster Stelle die selbstkritische Sicht stehen, dass die Probleme auch durch Richterinnen und Richter verursacht werden, die die richterliche Unabhängigkeit als persönliches Standesprivileg missbrauchen.
Zu wenig Personal
Ein weiterer Problembereich ist die Personalausstattung. Ohne aufgabenangemessene Ausstattung steht die Justiz von vornherein auf verlorenem Posten. Und hier stellt sich zunächst ein erhebliches Problem: Wie wird eigentlich berechnet, wie viele Richterinnen, Richter und sonstiges Personal an einem Gericht notwendig sind? Es ist ein ewiges Streitthema zwischen Richterverbänden (»viel zu wenig Personal«) und Justizpolitikern (»im Großen und Ganzen ausreichend«). Beide Seiten arbeiten mit Werten des Personalbedarfs (»der Personalbedarf beträgt 100 Richter, 90 sind da, ist also zu 90 Prozent erfüllt – alles nicht so schlimm«). Was bedeutet dieser errechnete »Personalbedarf der Justiz«, mit dem in allen Diskussionen aufgewartet wird?
Seit einigen Jahren wird die Anzahl des Personals in allen Gerichten und Staatsanwaltschaften nach einem – natürlich von einer Unternehmensberatungsgesellschaft entwickelten – komplexen Personalbedarfsberechnungssystem festgelegt. Ähnlich einer Getränkemarke heißt das System Pebb§y (sprich: Pepsi). Kurz gesagt funktioniert das System wie folgt: Jeder zu bearbeitende Fall bekommt eine aus Erfahrungswerten hergeleitete Minutenzahl. Werden etwa für ein Asylklageverfahren 511 Minuten angesetzt, dann geht man davon aus, dass im Schnitt jedes Asylklageverfahren diese Bearbeitungszeit benötigt.
Nun werden jedes Jahr die Arbeitsminuten des Personals errechnet – sie liegen etwa um die 100.000 Minuten – und dann weiß man oder glaubt zu wissen, wie viel Personal benötigt wird, um die Anzahl der eingehenden Verfahren zu bearbeiten. Dabei hat man allerdings das Problem, dass man ja nicht weiß, wie viele Verfahren im Lauf eines Jahres kommen – 1.000, 10.000 oder noch mehr?
Dass Hartz IV nicht nur in erheblichem Umfang Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich, sondern auch gut bezahlte Vollzeitarbeitsplätze in der Sozialgerichtsbarkeit geschaffen hat, hängt ja damit zusammen, dass über Jahre hinweg die Eingangszahlen an den Sozialgerichten wegen Hartz IV regelrecht explodierten – was man Monat für Monat feststellte, nachdem es eingetroffen war, aber vorher eben nicht gewusst hat. Dass bei den Verwaltungsgerichten in den letzten Jahren eine solche Verfahrensexplosion auch im Asylrecht stattfand, ahnte im Jahr 2014 niemand. Und dass die Verwaltungsgerichte in Deutschland zum Halbjahr 2019 auf einem Berg von etwa 200.000 unerledigten Asylverfahren sitzen, war auch nicht abschätzbar.
Es wird noch sehr lange Zeit benötigen, bis die Verwaltungsgerichtsbarkeit diese Verfahren bearbeitet haben wird – zumal die Anzahl der im ersten Halbjahr 2019 gestellten Asylanträge im langjährigen Vergleich mit etwa 85.000 nach wie vor äußerst hoch ist und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch rund 52.000 unerledigte Anträge anhängig sind. Das Asylsystem ist längst aus dem Ruder gelaufen. Das hatte man nicht vorhergesehen und es ist ja in der Tat schwer, in die Zukunft sehen – und den Personalbedarf für das jeweilig kommende Jahr zu berechnen.
Man hilft sich damit, indem man monatlich die Eingangszahlen der letzten zwölf Monate nimmt. Die Justizverwaltungen und die Gerichtsverwaltungen investieren erhebliche Mühen in diese monatlichen Berechnungen – immerhin müssen für alle Bereiche und Sachgebiete gesondert die jeweiligen Zahlen ausgewiesen werden. Dazu kommen etliche Arbeitskreise und Kommissionen, die bewerten und überprüfen, ob und was für einzelne Verfahrensgeschäfte geändert werden muss. Kommen etwa Gesetzänderungen in bestimmten Sachgebieten, die zu einer weiteren Komplexität führen, dann muss – irgendwann – die anzusetzende Minutenzahl geändert werden.
Will man etwa wissen, wie viel Personal im April 2019 erforderlich ist, nimmt man die Anzahl der Fälle aus dem Zeitraum der letzten zwölf Monate: April 2018 bis März 2019. Der Personalbedarf, der für April 2019 angegeben wird, ist also derjenige, der sich in der Vergangenheit – im Zeitraum April 2018 bis März 2019 – ergeben hat. Der nachträglich errechnete Personalbedarf für diesen alten Zeitraum wird nun der neue für die Zukunft, in der stillschweigenden Erwartung, es werde schon alles mit den Verfahrenseingängen so laufen wie bislang, und wenn in öffentlichen Diskussionen mit dem aktuellen Personalbedarf argumentiert wird, ist das tatsächlich der Bedarf der Vergangenheit – der letzten 12 Monate. Nun ja, bei Hartz IV und Asyl hat das offenbar nicht funktioniert.
Was passiert nun, wenn die Zukunft anders ist als die Vergangenheit – weil aktuell mehr Verfahren eingehen? Nehmen wir folgendes Beispiel: Von April 2018 bis Januar 2019 gehen an einem Gericht 100 Verfahren aus dem Umweltrecht ein (vorgesehen sind 1.383 Minuten je Umweltverfahren) – im Schnitt also 10 Verfahren im Monat. Ab Februar 2019 ändert sich das: Es kommen von Februar bis März 2019 insgesamt 40 Umweltverfahren bei Gericht an – also 20 im Monat, somit das Doppelte. Der Personalbestand errechnet sich aus den letzten 12 Monaten, somit in unserem Beispiel auf der Grundlage von 140 Verfahren, also 11,66 Verfahren im Monat. Nun setzt man diese Zahl mit der für Umweltverfahren errechneten Minutenzahl in Beziehung und erhält einen Personalbedarf für April 2019 – und hat einen Personalbedarf ermittelt, der für 11,66 Verfahren ausreichend sein sollte. Ist er aber nicht, weil tatsächlich schon seit zwei Monaten jeweils 20 Verfahren eingehen. Was passiert spätestens dann, wenn das auch in anderen Bereichen geschieht – etwa Asyl, Hartz IV, Kommunalrecht, Polizeirecht und vielen mehr?
Es entsteht ein wachsender Berg von Verfahren, der mit dem »alten Personalbedarf« nicht bewältigt werden kann. Und dieser Berg an nicht entschiedenen Verfahren – die Bestände an unerledigten Verfahren bei den Gerichten – ist »personalneutral«. Er wird regelmäßig nicht beim Personalbedarf berücksichtigt, der ja nur danach berechnet wird, was in den letzten 12 Monaten an neuen Verfahren eingegangen ist. Nur die neu eingegangenen Verfahren sind die Grundlage der Personalbedarfsberechnung – nicht die Verfahren, die schon da, aber nicht erledigt sind.
Die Konsequenz für denjenigen, der sein Recht bei den Gerichten sucht, ist – quasi im System angelegt –, dass er warten muss, weil die Verfahrensdauer ansteigt. Oder man greift – sofern man eine solche Möglichkeit hat – zu einer anderen Lösung: Man stellt Verfahren einfach ein oder eröffnet manche erst gar nicht. Die Staatsanwaltschaften in Deutschland hatten etwa ab 2015 im hohen sechsstelligen Bereich Ermittlungsverfahren wegen illegalen Grenzübertritts eingeleitet. Jeder erfasste Grenzübertritt eines Flüchtlings oder Migranten löste sozusagen ein neues Verfahren aus – das aber kurz nach Einleitung wieder eingestellt wurde. Das Ganze geschah meist, ohne dass ein Staatsanwalt das Verfahren je zu Gesicht bekam: Die Einleitung und die Einstellung erfolgten mittels EDV-Vordrucks (»ohne Unterschrift gültig«). Eine solch hohe Zahl neuer Verfahren erhöhte natürlich den Personalbedarf – auch wenn die tatsächliche staatsanwaltschaftliche Arbeit denkbar gering war.
Dagegen findet man sehr wenige Verfahren zu den massenhaften Passfälschungen oder Passvernichtungen, die im Zuge der Einwanderung seit insbesondere 2015 zweifellos vorgekommen sind. Solche Verfahren sind aufwendig zu bearbeiten – sie verursachen ganz anders als die illegalen Grenzübertritte, die schon ohne weitere Ermittlung mit ihrer Erfassung aufgeklärt sind, Zeit und Ermittlungsaufwand.
Oder als weitere Möglichkeit: Man greift auf die etwa im Zivilrecht beliebte Methode des Vergleichs – den Beteiligten wird »nahegelegt«, einen Vergleich abzuschließen, weil sonst erst einmal etwa ein teures und vorzufinanzierendes Gutachten erforderlich sei, der nächste Gerichtstermin ohnehin nicht vor Herbst nächsten Jahres stattfinden könne und so weiter, worauf nicht wenige Beteiligte eines Verfahrens resigniert dem vorgeschlagenen Vergleich zustimmen.
Oder, als letzten Ausweg: Man sucht nach einfachen, schnellen Lösungen – Qualität ist nicht unbedingt vordringlich, sondern die statistische Erledigung. So versucht eben jeder aus der Not das zu machen, was am besten dazu dient, irgendwie durchzukommen. Am Ende aber bleibt festzustellen: All das ist zutiefst unbefriedigend und vor allem für den Bürger nachteilig. Unnütze Justizverfahren einerseits, andererseits werden manche strafrechtlichen Ermittlungen gar nicht erst eingeleitet, wegen langer Verfahrensdauern in den Justizbereichen, die keine Möglichkeit haben, Verfahren schnell »totzumachen« und »Schnellentscheidungen«, bei denen der Wert nicht so sehr auf der Wahrung der Qualität liegt. Das darauf aufgebaute Justizsystem ist schon deshalb »systemisch« gefährdet.
Im Gewirr der Regelungen
Mehr und mehr wird das Justizsystem und der Rechtsstaat darüber hinaus durch ein weiteres »systemisches Problem« belastet: Wir haben inzwischen in viel zu vielen Bereichen ein Regelungsgeflecht, das kaum noch jemand versteht und das Ergebnisse bringt, die in breiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr nachvollzogen werden können. Die Folge ist eine zunehmende Entfremdung des Systems von der Bevölkerung. Ein Rechtsstaat, den breite Teile der Bevölkerung als entfremdet betrachten – welche Gefahr für ein rechtsstaatliches und demokratisches Gemeinwesen könnte größer sein? Wer versteht heute etwa noch die Sozialgesetzgebung – 12 umfangreiche und höchst komplexe Sozialgesetzbücher, noch deutlich mehr Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, die inhaltliche Regelungen enthalten, die dem vollends unverständlichen Steuerrecht doch sehr nahekommen. Wer schon einmal einen Wohngeldbescheid gesehen hat, weiß, was Unverständlichkeit bedeutet.
Wir leisten uns in einem Bereich, der für Millionen von Menschen existenziell ist, ein kaum noch verständliches Regelungsgeflecht unterschiedlichster Leistungsarten, gesetzlicher Regelungen zur Berechnung und zu den sonstigen Voraussetzungen, das die Betroffenen meist hilflos, ratlos, mitunter zornig oder deprimiert zurücklässt.
Wir haben – um ein weiteres Beispiel zu nennen – inzwischen ein nahezu unverständliches Regelungsgewirr im Umweltrecht. Wer es nicht glaubt, sollte ein paar verwaltungsgerichtliche Entscheidungen lesen – er wird mit Sicherheit in völliger Verwirrung vor den äußerst komplexen und kaum noch zu verstehenden Entscheidungen sitzen, die schier endlos auflisten, welche Prüfungen und wie sie vorgenommen werden müssen, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad gilt, um von dem Vorhandensein von Kleinstnagern und anderem Getier auszugehen, welche komplexen Messmethoden für das Vorkommen von Schadstoffen und Gerüchen anzuwenden sind und vieles mehr.
Wer versteht noch, dass eine Kerze in einem Raum, die etwa eine Stunde brennt, einen Stickstoffdioxidwert verursacht, der im öffentlichen Straßenraum zum Dieselfahrverbot führt? Man fragt sich schon, wieso man auf der einen Seite die – europarechtlichen und damit national überhaupt nicht mehr zu ändernden – Schadstoffgrenzwerte über viele Jahre hinweg immer weiter nach unten gesenkt hat und dann scheinbar verblüfft feststellt, dass diese Grenzwerte nicht mehr einzuhalten sind. Und wer versteht, dass der Dieselbesitzer (und bald auch der Besitzer eines »Benziners«?) das Fahrverbot und den rapiden Wertverlust seines Autos hinnehmen muss, weil der juristische Orbit einhellig sagt, dass das keine Enteignung sei, sondern etwas mit der Sozialpflichtigkeit seines »belasteten Autos«, das er im guten Glauben und auf Anraten der Politik und der Autoindustrie erworben hat, zu tun habe? Man kann sich auch die Frage stellen, ob die Politik wirklich weiß, was sie da in die Gesetze und Verordnungen schreibt.
Ein bekannter Justizpolitiker fragte mich einmal, warum die Verwaltungsgerichte eigentlich immer dieses Theater mit den Fledermäusen und Blumen machen würden. Könne man bei einem Straßenbauvorhaben nicht einfach mal auf solch spitzfindige Prüfungen verzichten? Ich reagierte zunächst mit der Gegenfrage, ob er meine, dass die Gerichte sich das selbst ausgedacht hätten, was er mit der Bemerkung bejahte, dass das so sein müsse, weil die Gerichte sich einfach immer weitere Dinge einfallen lassen würden, um alles noch komplexer zu machen. Als ich ihm sagte, dass es eine europäische Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie und eine Vogelschutzrichtlinie gäbe, die genau solche Prüfungen vorschreiben würden, reagierte er sichtlich überrascht und bemerkte, das sei ja wieder einmal typisch Europa – unverständliche und unsinnige Regelungen. Ich sagte ihm daraufhin, dass die Richtlinien solche des Rats der Europäischen Gemeinschaft seien – und der Rat bestehe aus den nationalen Regierungen. Deutschland habe all das mitbeschlossen, so wie die anderen nationalen Regierungen auch.
Allerdings muss man auch feststellen, dass nicht nur die rechtlichen Regelungen der EU zu einer unverständlichen Komplexität führen, sondern auch der Perfektionismus, mit dem Deutschland – im Unterschied zu anderen EU-Ländern – die Vorgaben der EU umsetzt oder sogar überbietet. Die Beispiele von Regelungen, die zur Entfremdung des Rechts von der Bevölkerung führen, sind inzwischen unzählig und aus nahezu allen Bereichen des juristischen Orbits. Wer verlangt von den Betroffenen, dies zu verstehen und hinzunehmen, was mit normalem Menschenverstand nicht mehr zu verstehen ist und hingenommen werden kann? Unser Rechtssystem überfordert in immer größerem Ausmaß den normalen Menschenverstand – im Asylrecht, im Sozialrecht, Strafrecht, Zivilrecht und in nahezu allen anderen Rechtsbereichen.
Hinzufügen muss man allerdings, dass bei aller Komplexität des nationalen und des EU-Rechts Richter zumindest gelegentlich auch Wertungs- und Entscheidungsspielräume haben. Manchen gelingt es, mit Erfahrung und normalem Menschenverstand zu praxisgerechten und für den Bürger nachvollziehbaren Entscheidungen zu kommen. Andere jedoch verheddern sich in vermeintlich juristischem Perfektionismus – manchmal auch aus sozialpädagogischer Neigung – in den Zwirnfäden des Rechts. Sie vermitteln mit höchst komplizierten und kaum noch nachvollziehbaren Gedankengängen den Eindruck von richterlicher Weltferne. Auch das ist Ursache des schwindenden Vertrauens in die Justiz.
Zunehmend miteinander verwoben: Justiz und Politik
Die Justiz und der Rechtsstaat sind darauf angewiesen, dass man den damit betrauten Personen vertraut. Ist das Vertrauen in die unparteiische Wahrnehmung durch diese Personen nicht mehr da, stirbt der Rechtsstaat. Die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz geht von einem System der »checks and balances« aus: Die Staatsgewalt ist nicht einem, sondern verschiedenen Staatssystemen übertragen, die sich gegenseitig kontrollieren. Sind die Systeme ineinander »verwoben«, dann funktioniert das System nicht mehr. Es ist vor diesem Hintergrund nicht nur bedenklich, sondern skandalös, dass die politischen Parteien in immer unverhohlenerer Weise versuchen, auch Justizstellen mit Parteileuten zu besetzen.
Beginnen wir mit den juristischen Arbeitskreisen der Parteien. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen der SPD (ASJ), der entsprechende Bundesarbeitskreis der Christlich Demokratischen Juristen der CDU (BACDJ) mit den jeweiligen Arbeitskreisen in den Ländern und all die anderen Arbeitskreise und -gemeinschaften der anderen Parteien – sie beraten alle ihre jeweilige Partei und ihr Zweck besteht darin, deren Parteiziele juristisch zu begleiten und zu ihrer Durchsetzung zu verhelfen. Zur Mitwirkung eingeladen werden zwar auch Juristen, die nicht Parteimitglied sind. Aber all das ändert nichts daran, dass die Aufgabe darin besteht, die Partei juristisch zu beraten und die Parteiziele durchzusetzen.
Der BACDJ arbeitet – wie er auf seiner Homepage schreibt – »eng mit der CDU/CSU Bundestagsfraktion zusammen«. Unverhohlen wird mitgeteilt, dass »wir das Recht als Instrument der Durchsetzung unserer Politik« ansehen. Die ASJ bezeichnet sich als »rechtspolitisches Gewissen der SPD«. Aktive Mitglieder all dieser Parteigremien sind auch (hochrangige)Richter und Staatsanwälte – sehr häufig mit dem entsprechenden Parteibuch.
Viele der Parteimitglieder sind zugleich auch in den Richterverbänden tätig – dem Deutschen Richterbund, dem Verband Deutscher Verwaltungsrichter und in den anderen Richterverbänden. Es wirkt keineswegs vertrauensfördernd für Prozessbeteiligte, wenn sie wissen, dass sie einem Parteimitglied irgendeiner Partei gegenübersitzen, das sich in der Partei aktiv für die Durchsetzung der Parteiziele engagiert. Man kann nicht ernsthaft davon ausgehen, dass dieses Parteiengagement die Neutralität der Justiz unberührt lässt.
Und machen wir uns nichts vor – nicht wenige der in den Parteigremien aktiv tätigen Parteimitglieder versprechen sich von ihrer Tätigkeit auch etwas für sich selbst. Den Altruismus trifft man hin und wieder – verbreiteter ist aber der Wunsch, die eigene Karriere zu befördern. Und die Hoffnung, dass das alles der Karriere nützt, ist ja nicht grundlos. Die vielen öffentlich zugänglichen Berichte über – um es vorsichtig auszudrücken – eigentümliche Stellenbesetzungen geben darüber ein eindrucksvolles Bild – und das Bild ist umso bedrückender, weil es tatsächlich noch viel mehr solcher »eigentümlichen Stellenbesetzungen« gibt, über die nicht berichtet wird.
Eines dieser eigentümlichen Stellenbesetzungsverfahren – um nur ein Beispiel unter vielen anzusprechen – war die Berufung der früheren Staatssekretärin im niedersächsischen Justizministerium zur Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle – ebenso wie die damalige Justizministerin ein Mitglied der Partei der »Grünen«. Nachdem nach den Wahlen in Niedersachsen die bis dahin regierende rot-grüne Landesregierung nicht mehr weiter im Amt sein konnte, sollte die noch bis zum 22.11.2017 amtierende Staatssekretärin am 21.11.2017 zur Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle durch die ebenfalls noch einen Tag im Amt werden. Am 22.11.2017 wurde die Staatssekretärin in den einstweiligen Ruhestand versetzt und zugleich sollte sie Richterin am Oberlandesgericht Celle werden. Aber einen Tag zuvor erteilte die noch kurz im Amt befindliche Landesregierung ihre Zustimmung zur Ernennung als Präsidentin des Oberlandesgerichts.
Ohne zu sehr in die Feinheiten des Beförderungsrechts einzutauchen, muss man eines wissen: Bei Beförderungsentscheidungen spielt es eine große Rolle, in welchem Amt die Bewerber sind. Sind zwei Bewerber vorhanden, etwa der eine in der Besoldungsgruppe B5 und der andere in B9, und werden beide Bewerber sehr gut beurteilt, dann sticht derjenige im höheren Amt den anderen regelmäßig aus. Die Rechtsprechung geht nämlich davon aus, dass die Anforderungen in einem höheren Amt höher als in einem niedrigeren Amt sind. Und sind die Anforderungen in dem höheren Amt »höher«, dann ist ein dort erzieltes »sehr gut« wegen des höheren Maßstabes besser als das »sehr gut« in dem niedrigeren Amt, weil dort wegen der »niedrigeren« Anforderungen der Maßstab für das »sehr gut« niedriger ist.
Mitkonkurrent war der Präsident des Landgerichts Hannover. Sein Pech war, dass er niedriger eingestuft war als die bis dahin noch amtierende Staatssekretärin – sie war als Staatsekretärin in B9 eingestuft. Sein juristischer Kampf endete schließlich erfolglos beim Bundesverfassungsgericht. Übrigens wurde der Vorgänger im Amt der Staatssekretärin, nachdem er sein Amt aufgeben musste, ebenfalls Präsident – beim Oberlandesgericht Braunschweig. Das ist nur ein Beispiel, das deutlich macht, in welchem Ausmaß politische Parteien Einfluss auf Stellenbesetzungen in der Justiz nehmen.
Es gibt noch einzelne Justizpolitiker, die den Schaden solcher Stellenbesetzungen erkennen und anders handeln. Aber das inzwischen erreichte Ausmaß an solch eigentümlichen Stellenbesetzungen ist erschreckend. Dass die Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder zu einem erheblichen Teil mit Parteimitgliedern besetzt werden, wird offenbar als mehr oder weniger normal angesehen – was es aber tatsächlich nicht ist. Inzwischen finden solche Besetzungen aber in allen anderen Gerichtszweigen in allen Instanzen der Zivil- und Strafgerichte, Verwaltungsgerichte, Arbeitsgerichte, Sozialgerichte, Finanzgerichte und bei den Staatsanwaltschaften statt.
Die Justiz ist in Schieflage – es hilft nicht, die Augen davor zu verschließen. Es ist höchste Zeit, dass die beschriebenen Missstände schnellstmöglich beseitigt werden. Lassen wir es weiter so laufen, wird der Schaden unermesslich sein: die Beschädigung des Rechtsstaates mit all den fatalen Folgen für ein demokratisches Gemeinwesen.